Menschenrecht auf Biodiversität
von Peter Droege & Hans-Peter Schmidt
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PETER DROEGE: Herr Schmidt, anstatt der alten Wohlstandsformel: 1 Mensch, 1 Auto, 1 Parkplatz haben Sie kürzlich an der Universität Liechtenstein die Einführung eines neuen Menschenrechts auf Biodiversität gefordert und dafür die Stadtformel geprägt: 1 Mensch, 1 Baum, 25 m2 Garten. Braucht es in den Städten denn wirklich soviel mehr Natur?
HANS-PETER SCHMIDT: Seit die Landwirtschaft auf riesigen Monokulturflächen mit massivem Einsatz von Düngemitteln, Herbiziden und Pestiziden die Artenvielfalt der ländlichen Ökosysteme austreibt, ist es zu der unglaublichen Situation gekommen, dass in vielen Städten die Biodiversität höher als auf dem Lande ist. Es lebt nicht nur ein immer größerer Teil der wachsenden Weltbevölkerung in Städten, sondern auch ein immer größer werdender Anteil der noch nicht ausgestorbenen Pflanzen- und Tierarten. Städte sind zu biologischen Hotspots, ja fast schon zu Oasen in der Wüste geworden.
PD: Die agro-chemische Intensivierung und Industrialisierung der Landwirtschaft erklärt sich ja vor allem aus dem rasant gestiegenen Ressourcenverbrauch der Städte. Über 50% der Bevölkerung leben mittlerweile in den Städten und haben ihren Umweltverbrauch immer mehr in die ländlichen Gebiete ausgelagert. Die Städte verbrauchen direkt und indirekt die meiste fossile Energie, produzieren die meisten Abfälle und die meisten Umweltschadstoffe, was zu bedeutend stärkeren Auswirkungen auf dem Land als in den Städten führt. Durch den ungehemmten Verbrauch fossiler Energieträger wie Kohle und Erdöl gerät die globale Kohlenstoffbilanz in ein katastrophales Ungleichgewicht, was zum Wandel des Klimas führt, der wiederum die schlimmsten Auswirkungen auf dem Land und nicht in den Städten nach sich zieht. Die verheerendsten Folgen dieses ungehemmten Ressourcenverbrauchs zeigen sich weder am Ort noch zum Zeitpunkt des Verbrauches, sondern zeitverzögert und fern von der heilen Stadtwelt.
Besonders eindrücklich wird dies auch bei der Herstellung des sogenannten Biogases aus Maismonokulturen, wo pro Hektar über 500 kg Dünger und Pestizide für 12 Tonnen Ernte verbraucht werden, in der Gärgülle mikrobielle Giftschleudern entstehen und wo durch die wieder aufs Land gebrachten Gärreste die Böden versauern. Zwar handelt es sich hier um nachwachsende Rohstoffe, doch wenn für deren "Nachwachsen" die Böden und die Biodiversität zerstört werden, ist die Gesamtbilanz kaum besser. Betrachtet man die Fleisch- und sonstige Nahrungsmittelproduktion für zentrale Supermärkte, ist es auch da das Gleiche: Der größte Umweltverbrauch fällt vor den Stadttoren an.
Ist die inzwischen höhere Biodiversität der Städte also nicht nur die Kehrseite der Lebensraumvernichtung jenseits der Stadtgrenzen? Müsste man nicht als erstes bei der Einschränkung des Ressourcenverbrauchs der Städte ansetzen und für mehr Biodiversität in der Landwirtschaft sorgen, anstatt auf teurem Stadtboden immer mehr Platz für die Natur zu schaffen und die zerstörerische Grundsituation beizubehalten?
HPS: Die Biodiversität muss überall gefördert werden, in der Stadt, in der Industriezone, auf dem Land. Wir müssen in allen Bereichen mit praktikablen Konzepten ansetzen. Doch gerade in der Landwirtschaft habe ich momentan die geringste Hoffnung. Landwirte sind Skeptiker und bevorzugen das Übel, das sie kennen, gegenüber allem Neuen, das sie nicht kennen. Der wirtschaftliche Druck, der auf den Landwirten lastet, macht sie blind für die Not der Lage, in der sie sich befinden. Großflächige Veränderungen wären nur durch konsequentes Einschreiten der Politik möglich, doch eher wachsen fertige Brote an den Halmen, als dass ein Politiker käme, der etwas von Landwirtschaft und von Ökologie versteht. Das war schon im Alten Babylon so und hat sich seither nicht geändert.
Was den Ressourcenverbrauch der Städte betrifft, so wird wohl auch da erst die Not zur Umkehr führen. Es sei denn, intelligente Stoffstromlösungen würden sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich die alte Ressourcenverschwendung mit deren eigenen Mitteln schlagen, also bereits kurz- und mittelfristig mit höherer Effizienz und Profitabilität aufwarten. Einzig in den Städten findet die zusätzliche Wertschöpfung nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine ästhetische Berechnungsgrundlage. Denn noch besitzen die Städter jene romantische Naturvorstellung und Sehnsucht nach der intakten, gesunden Naturidylle. Darauf lässt sich hervorragend aufbauen.
PD: Für Städter ist der Eindruck von Natur noch ein Zeichen von Lebensqualität. Für die Landbewohner hingegen ist die Natur ein Kampf, als dessen Sieger sie sich fühlen, je mehr Ernte sie ihr abringen. Dass aufgrund der Pestizide, Düngemittel und Monokulturen kein Grashüpfer mehr springt und kein Vogel hinter dem Pflug mehr nach Würmern pickt, ist durch die langsame, aber stetige Verschlimmerung des Zustands quasi zu Normalität geworden. Man hat sich daran gewöhnt, dass es auf dem Land nicht mehr surrt und brummt und dass Krume und Gülle stinken.
HPS: Aber genau das übt einen direkten, bedrohlichen Einfluss auf die Ökologie der Städte aus. Früher konnte sich die Biodiversität der Städte - und hier geht es insbesondere um die mikrobielle Biodiversität, die Epidemien und Allergien vorbeugt - durch die intakte Umwelt jenseits der Stadtgrenzen immer wieder erneuern. Doch je stärker das ökologische Gleichgewicht im Umland der immer größer werdenden Städte gestört ist, desto gefährlicher wird auch der direkte Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bewohner. Aus diesem Grund wird es derzeit auch immer wichtiger, in Städten eine ökologische Stadtplanung zu entwickeln, so dass eine ökologische Vernetzung von natürlichen Stadtelementen wie Bäumen, Hecken, Wildblumenstreifen, Dachgärten, Bienenstöcken usw. entsteht. Auf diese Weise werden die Ökosysteme der Städte stabilisiert, die Lebensräume aufgewertet, die Stoffströme wenigstens teilweise geschlossen und damit auch die Lebensqualität verbessert.
PD: Anstatt nur vereinzelte Parks als grüne Lunge und Erholungsorte zu etablieren, wollen Sie diese naturnahen Zonen durch Pflanzenkorridore und biologische Hotspots, durch Fenstergärten und Baummieter, mobile Asphaltgärten und Blumendächer vernetzen.
HPS: Ja, die Vernetzung dieser Elemente ist von enormer Bedeutung. Die meisten Schmetterlinge, Käfer, Eidechsen, Vögel und sonstigen Tier- aber auch Pflanzenarten benötigen ja eigentlich größere zusammenhängende Lebensräume, als sie in den Städten vorhanden sind. Durch eine starke Vernetzung und die Vervielfältigung auch nur allerkleinster Naturflächen kann die Stadt quasi zu einem einzigen, zusammenhängenden Habitat sehr vieler verschiedener Arten werden.
PD: Wenn die Städter die Natur auf diese Weise täglich in ihrem Lebensraum erleben und durch Pflege wie Ernte der Kulturpflanzen in deren Funktionszusammenhängen erfahren, durchschauen sie auch die ökologischen Folgen ihres Lebensstils viel direkter. Je näher die Städter an den Ressourcenkreislauf heranrücken und sehen, wie aus biologischen Abfällen wieder Nährstoffe und daraus neue Nahrungspflanzen werden, auf denen sich wiederum Insekten ansiedeln, desto eher begreifen sie auch die Bedeutung und Möglichkeiten, die Stoffkreisläufe im Alltag zu schließen und den Ressourcenverbrauch einzuschränken.
HPS: Es könnte tatsächlich einen Bewusstseinswandel einläuten. Schließlich ist jeder Baum, jeder Busch, jede Blume, ja jedes Samenkorn, die ein Mensch zum Wachsen in die Erde bringt, Widerstand gegen die Entfremdung des Menschen von sich selbst, ja sogar Widerstand gegen den Untergang der Abendlandes!
PD: Die erwähnten Maßnahmen zur Förderung der Biodiversität in den Städten leisten ja zudem auch eine Reihe weiterer Ökosystemdienstleistungen. Lassen sich diese beziffern, um vielleicht auch harte Ökonomen zu überzeugen?
HPS: Bäume reinigen kostenlos die Luft und das Wasser, regulieren die Luftfeuchtigkeit, temperieren die Sommerhitze, fangen Staub ein, holen CO2 aus der Atmosphäre und bieten Lebensraum für unzählige Insekten, Vögel und regulierende Mikroorganismen. Nimmt man eine mittlere Bevölkerungsdichte von 2500 Einwohnern pro Quadratkilometer, so würden allein die für jeden Einwohner gepflanzten Bäume eine sommerliche Verdunstungsleistung von 4,5 MWh erbringen. Eine riesige Klimaanlage, die für angenehmes Stadtklima sorgt. Jedes Jahr würden die 2500 Bäume 5000 t CO2 aus der Atmosphäre entziehen. Das Blattwerk der Bäume und Hecken würde Lebensraum für unglaubliche 10 Trillionen Mikroorganismen bieten, die für die Stabilität des Ökosystems von allerhöchster Bedeutung sind und großen Einfluss auf die Gesundheit der Stadtbevölkerung haben.
PD: Durch die von Ihnen vorgeschlagene Bereicherung der Städte durch Bäume, Hecken und Gärten würde der Flächenbedarf wachsen und damit auch die Zersiedlung, wodurch auch die Flächenversiegelung, der Verkehr und Energieverbrauch weiter zunehmen würden. Droht die Katze damit nicht, sich mal wieder selbst in den Schwanz zu beißen?HPS: Bevor die Städte wirklich wegen der Pflanzung von Stadtbäumen ausfasern, bleiben selbst in den dichtesten Städten noch unzählige Freiräume zur Schaffung von Naturelementen. Überall in den Städten und Dörfern, auf Parkplätzen, an Haltestellen, auf Fußwegen, Kreuzungen, Spielplätzen, in Vorgärten, auf Balkons, in Hinterhöfen und auf Dächern lässt sich Platz für neue Bäume, Sträucher, Kräuter, Gemüse, Obst und Blumen finden. Jeder neue Baum, jeder neue Strauch, jede Hecke, jeder Flecken Erde im Asphalt sind eine Hilfeleistung für die Natur, damit sie uns besser erträgt und die Folgen unserer Ressourcenverschwendung lindert.
PD: Ein Menschenrecht auf Biodiversität des Lebensraumes ist nicht nur ein Anspruch an die Bürokratieformen der Politik, sondern insbesondere eine Pflicht für jeden einzelnen, dieses Recht durch eigenes Handeln zu erfüllen.
HPS: Was im Grunde ja für alle Menschrechte gilt. Auch wenn die Staaten durch den Beitritt zur UNO nominal dazu verpflichtet sind, die allgemein formulierten Menschrechte in ihrem nationalen Rechtssystem zur Geltung zu bringen, gibt es keine juristische Instanz gegenüber der ein Menschenrecht wirklich eingeklagt werden könnte. Zwar hat jedes Individuum Anspruch auf die Erfüllung seiner Menschenrechte, kann diese aber nur gegenüber einer Allgemeinheit einklagen, die sich nicht angesprochen fühlt.
Insofern besteht das Ziel der Menschenrechte nicht zuletzt in der Pflicht, sich für die Wahrung dieser Rechte zu engagieren. Und zwar sowohl gegenüber der Politik als auch und vor allem im eigenen täglichen Leben. Die Formulierung und Anerkennung eines Menschenrechts hilft dann auch, um gegenüber den Verwaltungsinstanzen nicht nur auf gesunden Menschenverstand hoffen zu müssen, sondern sich auch auf ein allgemeines Recht berufen zu können, um gemeinsam Lösungen zu erarbeiten
PD: Konkret bedeutet dies, dass sich die Bürgergesellschaft durch ein Menschenrecht auf Biodiversität gegenüber ihren Gemeinde- und Stadtverwaltungen stark machen könnte, um die ökologische Qualität des Lebensraumes durch Vervielfachung und Vernetzung natürlicher Elemente zu verbessern.
HPS: Sobald die Notwendigkeit zur Förderung der Biodiversität des Lebensraums einer breiten Öffentlichkeit bewusst geworden ist, liegen die Lösungen praktisch schon auf der Hand. Wir müssen jenen Blick lernen für die naturentblößte Stelle in der Stadt, für den noch nicht bewachsenen Asphaltfleck, für das kahle Fensterbrett, für das leere Dach. Die Rückkehr der Natur beginnt in der eigenen Wohnung, in der Nachbarschaft und am Arbeitsplatz. Wenn Fensterbretter und Hausnischen nicht nur mit Geranien in Torfsubstraten, sondern mit Pflanzenvielfalt in humusreichen Erdkästen gestaltet werden, wenn Gemüse und Kräuter drei Schritt weit von der Küche wachsen, wenn die Küchenabfälle im geruchsneutralen Wurmkomposter gleich wieder zu nahrhafter Erde und CO2-Speicher werden, wenn Topfblumen im Winter den Luftbefeuchter ersetzen, wäre schon viel erreicht. Wenn pro Einwohner wenigsten 2 Quadratmeter an Fenster- und Asphaltgärten in der Wohnung, am Haus, in Büros und Schulen eingerichtet würden, wären das für eine Stadt wie Zürich knapp eine Millionen Quadratmeter naturalisierter Flächen, über 20 000 t CO2-Speicher und eine neu gewonnene Biodiversität, die sich schon im ersten Jahr spürbar an der Anzahl von Schmetterlingen ablesen lassen würde.
PD: Die Biodiversität des Lebensraumes hat nicht nur ästhetischen Wert, sondern ist die Grundlage des Lebens überhaupt. Mögen wir es rechtzeitig erkennen, in die Stadtplanung einbeziehen, in den Architekturbüros beherzigen, an den Universitäten und Schulen lehren, in die Bürgergesellschaft tragen und die entsprechenden Verwaltungsstrukturen schaffen.
HPS: Und am Ende, wenn die Bauern und Landbewohner zum Urlaub in die Städte kommen, um Natur zu erleben und den Geschmack von gesundem Gemüse wieder zu entdecken, wird sich womöglich sogar in der Landwirtschaft etwas ändern.
PETER DROEGE hält nach Lehrtätigkeiten an den Universitäten München, Boston (MIT), Tokyo, Peking und Sidney derzeit den Lehrstuhl für Nachhaltige Raumentwicklung an der Universität Liechtenstein inne. Er ist Präsident von Eurosolar und Weltrat für Erneuerbare Energien. Sein Buch The Renewable City gilt als das Standardwerk für nachhaltige Stadtentwicklung und hat weltweit bedeutende Stadtplanungsprojekte inspiriert. Seit einigen Jahren bezieht Peter Droege verstärkt Elemente der Biodiversitätförderung und des Klimafarmings in seine Stadt- und Regionalplanungen ein.
Astrid
14.09.2011 07:07
Sehr amüsanter Artikel, der viel Wahrheit enthält. Bitte rechnen Sie auch mit den aufs Land abgewanderten Städtern, die in ihren Gärten und Rasenflächen keine Dünger und Pflanzenschutzmittel dulden (nur natürliche). Hier gibt es einen Bauern, der einen offenen Kuhstall hat und seine Milch per Automat verkauft, was sehr erfolgreich ist.