Pflanzenwachstum ohne Wirtschaftswachstum
von Hans-Peter Schmidt
Die heutige agroindustrielle Landwirtschaft ist im Gegensatz zu dem oben beschriebenen Szenario ein Klimakiller und erzeugt 15 bis 20 Prozent der Treibhausgasemissionen. Ohne an Produktivität zu verlieren, könnte sie jedoch soviel Kohlenstoff in den Böden und Bäumen speichern, dass Europa allein dadurch wieder nahezu klimaneutral würde. Die so erzielte Klimaneutralität wäre allerdings nur eine willkommene Nebenwirkung, denn der Haupteffekt dieser naturnahen Maßnahmen wäre die Rettung der Biodiversität und damit der ökologischen Balance unserer Lebensräume. Anstatt nackter oder einzig mit Monokulturen bestellter Böden würden bunte Zwischenkulturen und zahlreiche, untereinander vernetzte Hecken, Raine und Baumstreifen die Artenvielfalt im ländlichen Raum in phänomenaler Weise fördern. Es wäre so einfach, die Welt zu retten, man müsste der Natur nur die Chance dazu geben. Denn im Unterschied zu uns kümmert die Natur sich nicht um ein Problem nach dem anderen, sondern um alle zugleich. Die einzige Schwierigkeit dabei ist: Niemand würde daran verdienen. Zwar wäre die Luft reiner, die Gewässer sauberer, die Böden fruchtbarer, die Biodiversität höher, die Lebensmittel gesünder aber es ließe sich nicht in Profit und Bruttosozialprodukt münzen. Und das kann sich kein Land leisten.

Aus diesem Grund subventionieren die Volkswirtschaften auch lieber Elektroautos, Gezeitenkraftwerke, Staudämme, Atomendlager und dergleichen, so dass sich nach dem berühmten Win-Win-Szenario der Moderne neben dem Guten auch Wirtschaftswachstum und Anlagerenditen generieren lassen. Für die Leistungen ökologischer Landwirtschaft und intelligenter Bodennutzung hingegen gibt es nicht einmal Klimazertifikate, da diese angeblich zu schwierig zu berechnen sind.
Was also tun? Wenn der Staat es nicht schafft, das Naheliegende zu tun, weil es sich nicht als Wirtschaftsförderungsmaßnahme deklarieren lässt, so muss es die Zivilbevölkerung selbst in die Hand nehmen, ihren natürlichen Lebensraum zu bewahren. Sicher, vier Millionen Berliner können nicht jeden Tag einen Baum pflanzen. Aber vier Millionen Bäume würden in Berlin gewiss noch Platz finden. Einzig die Stadtverwaltung hätte nicht die Mittel, sich um die Pflanzung und Pflege der Bäume zu kümmern.
Also braucht es zivilgesellschaftliche Baumpaten.
Jeder neue Baum, jeder neue Strauch, jede Hecke, jeder Flecken Erde im Asphalt sind eine Hilfeleistung für die Natur, damit sie uns besser erträgt und die Folgen unseres geheiligten Konsums sühnt. Überall in den Städten und Dörfern, auf Parkplätzen, an Haltestellen, auf Fußwegen, Kreuzungen, Spielplätzen, in Vorgärten, auf Balkons, in Hinterhöfen und auf Dächern lässt sich Platz für neue Bäume, Sträucher und Blumen finden. Jedes Pflanzen eines Baumes oder einer Hecke ist ein Akt des Widerstands gegen die Entfremdung des Menschen durch die Doktrin des Wirtschaftswachstums. Bäume reinigen kostenlos die Luft und das Wasser, regulieren die Luftfeuchtigkeit, temperieren die Sommerhitze, fangen Staub ein, holen CO2 aus der Atmosphäre und bieten Lebensraum für unzählige Insekten, Vögel und regulierende Mikroorganismen. Pflanzen leisten Dienstleistungen, die allen nützen, aber niemandem Profit einbringen – und aus diesem Grund müssen wir uns selbst um die Pflanzung und Pflege von Bäumen, Hecken und Wiesen kümmern, anstatt darauf zu warten, dass es der Staat mit den Steuergeldern aus dem Wirtschaftswachstum organisiert.

Unser Vorschlag lautet deshalb, dass die Bewohner in jedem Stadtviertel und jedem Dorf Pläne aufstellen, auf denen sie alle Orte einzeichnen, wo ein Baum, Strauch oder Blumenstreifen gepflanzt werden könnte. Gemeinsam mit der Gemeindevertretung wird daraus eine Pflanzliste, in die sich die Bewohner eintragen, um jeweils die Patenschaft für einen Baum oder Strauch zu übernehmen. Die Patin oder der Pate kauft und pflanzt den im Bepflanzungsplan empfohlenen Baum und übernimmt für eine vereinbarte Zeit die Pflege. Jeder Baum wird zu einer biologischen Heißzone und um seinen hoffentlich nicht einbetonierten Stamm wachsen Kräuter und Wildblumen. Wenn es sich um Obstbäume handelt, so gehören die Früchte den Bewohnern, die sich im Vorbeigehen für den Eigenbedarf bedienen dürfen.
Da die Artenvielfalt in den Städten inzwischen im Vergleich zu den agroindustriellen Monokulturen auf dem Land höher ist und mit diesen Maßnahmen noch weiter wachsen würde, werden die Stadtbienen in den Bienenkästen auf Balkons, Dächern und Fenstersimsen nicht nur mehr Honig als auf dem Land produzieren, sondern in den pestizidfreien Städten ihre eigene Art vor dem Aussterben bewahren.
In Peking übrigens wurden vor den Olympischen Spielen 25 Millionen Bäume zur Klima- und Luftverbesserung gepflanzt. In London wurde 2002 die Kampagne "1 Millionen Bäume bis 2012" lanciert und ist auf bestem Weg, das Ziel zu erreichen. In Nairobi, La Paz, Mailand und einigen anderen Städten der Welt werden ähnliche Baumpflanzungsprojekte umgesetzt (siehe auch: Trees for Cities). Für die Städte zahlen sich solche Kampagnen auch wirtschaftlich aus, denn die Erhöhung der Lebensqualität steigert die Anziehungskraft der jeweiligen Stadt, wodurch deren Steuereinahmen wachsen. Doch was für das internationale Ranking von Städten von Bedeutung ist, gilt für die Volkswirtschaft nur in eingeschränktem Maß. Die Sanierungsarbeiten nach der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko waren dem Wirtschaftswachstum dienlich, und ebenso hilft es auch dem Wirtschaftswachstum, wenn für die Erzeugung von einer Tonne Kartoffeln jedes Jahr mehr Pestizide gebraucht werden, oder wenn die unausgeglichene Lebensweise der Städter den Konsum an Psychopharmaka, Schmerzmitteln und Schlankmachern steigert. Ohne der Politik wirklich ernsthaft diesen grausamen Zynismus vorzuwerfen, so ist doch unbestreitbar, dass diese gegen jeden gesunden Menschenvestand verstoßende Ungeheuerlichkeit dem aktuellen Wirtschaftssystem inhärent ist.

Anstatt des alten Wohlstandsziels: 1 Einwohner, 1 Auto, 1 Parkplatz, würden wir als ökologisches Minimalziel für moderne Städte ausrufen:
1 Einwohner, 1 Baum, 3 m Hecke, 20 m2 Wildblumenwiese, 10 Zimmerpflanzen.
Und wenn in den Städten dann wirklich kein Platz mehr für einen weiteren Baum zu finden ist, gehen wir hinaus aufs Land und pachten Ackerstreifen von den Bauern, um Bäume und Hecken zu pflanzen und Hotspots für die Artenvielfalt anzulegen. Auf dass die Bienen und Schmetterlinge der Städte, wenn sie sich mal nach draußen in die Zone der Nahrungsmittelproduktion verirren, nicht mehr krepieren müssen.

Vom Potential der Maßnahmen des Klimafarmings beim Umbau der Landwirtschaft handelt der zweite Teil des Artikels, der Mitte Mai im Ithaka-Journal erscheinen wird.
Eine leicht abgwandelte Version des Artikels erschien in dem Buch: 50 Einfache Dinge, die Sie tun können, um die Gesellschaft zu verändern. Hrsg. Ines Pohl, Westend Verlag 2011. In diesem Buch finden Sie zahlreiche weitere Ideen, wie die Städte zu Oasen mit hoher Biodiversität werden könnten.
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(1) Albert Bates: The Biochar Solution – Carbon Farming and Climate Change, p. 157, New Society Publishers 2010
(2) Ein Humusgehalt von 1% speichert pro m2 Boden rund 2,7 kg Kohlenstoff, dies entspricht pro Hektar (100m x 100m) rund 100 Tonnen CO2. Die landwirtschaftliche Nutzfläche der EU betrug 2005 rund 135 Millionen Hektar. Die CO2-Emissionen der EU liegen nach Angaben der European Environment Agency (EEA) bei etwa 5000 Millionen Tonnen pro Jahr.
(3) Für einen Baumstreifen von 100 m Länge und 3 m Breite wurde eine jährliche C-Fixierung in Stamm und Ästen sowie in Wurzeln und Humus von insgesamt 2 t pro Jahr angenommen.
(4) Biokohle wird durch Verschwelung von Biomasse hergestellt und bleibt weit über 1000 Jahre als Kohlenstoff im Boden stabil. Zusätzlich zur C-Fixierung trägt Biokohle zu Emissions-Reduktionen des extrem klimaschädlichen Lachgases (300fach CO2) bei.
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